Massengutfahrt 1984-85
MEISTERSINGER – Reedezeit vor Bahia Blanca
Die meiste Zeit meiner 30 Seefahrtjahre bin ich eigentlich immer ganz gerne gefahren. Egal was für’n Schiff und auch was für’n Trip. Nach vielen Jahren bei einer Reederei trifft man immer wieder alte Bekannte auf einem Schiff. Und mit zunehmendem Alter hat ist man auch nicht mehr ganz so ein „strammer Landgänger“ wie früher. Aber es kann auch Zeiten auf einem Schiff geben, an die man sich nur ungern zurück erinnert. Da treffen dann widrige Umstände und üble Leute zusammen und beides zusammen ergibt dann das, was man bei der Seefahrt als „Knast mit Raucherlaubnis“ beschreibt. Zum Glück habe ich das nur sehr selten erlebt. Das erste Mal passierte mir das auf einem Massengutfrachter namens MEISTERSINGER.
Zunächst sehe ich meinem nun schon zweiten Einsatz auf der MEISTERSINGER ganz gelassen entgegen. In meinem Job als Funker habe ich stets nur einen Vorgesetzten und das ist der Alte. Nun geht diesem schon ziemlich alten Herrn Konrad Kiesewetter eigentlich ein Ruf voraus, der bedenklich stimmt. Egal, da musste durch, denk ich und – wie sich später herausstellt, ist das in Wahrheit ein wunderbarer Mensch, mit dem mich Jahre später lange und gute Freundschaft verband. Seinen „schlechten“ Ruf hatte er sich dadurch geschaffen, weil er auf der FUERTEVENTURA; einem anderen Bulky; aus gutem Grund mitten auf See kurzerhand die komplette Bordbar über die Kante befördert hat. Aber darauf komme ich zu einer anderen Zeit mal zurück. Ich hatte bestimmte Gründe, meine auf etwa acht Monate geplante Fahrtzeit auf diesem Schiff um eine weitere Reise zu verlängern. Dass aber fünfzehneinhalb daraus würden, das war nicht vorhersehbar.
Wir machten mehrere Reisen mit der MEISTERSINGER – fast immer mit Getreide – von Häfen in Kanada und in Südamerika einerseits und nach sowjetischen Häfen in der Ostsee und im Schwarzen Meer andererseits. Dieser nachfolgende Bericht behandelt die sozusagen letzte Reise, während der wir aus dem Schwarzen Meer kommend nach den La Plata-Häfen in Argentinien unterwegs waren. Inzwischen war Kiesewetter durch „Witte Mütz“ abgelöst worden. Auch kein schlechter Tausch.
Bulkies sind groß, und die Reisen langwierig. Das in mehrfacher Beziehung. Nicht nur wegen der 14 Meilen, die der Dampfer höchstens schafft. Nein, vor allem wegen der großen Entfernungen und wegen der langen Liegezeiten auf Reede. Und diese fast immer ohne Landverbindung für die Besatzung. Besonders, wenn sie in der Getreidefahrt zwischen Südamerika und der Sowjetunion eingesetzt sind. Die Schiffe fahren überwiegend in Timecharter und den Reedern sind die Liegezeiten ziemlich egal. Eher im Gegenteil. Die Schiffsmaschinen werden geschont und das Geld läuft trotzdem.“More days more money“ so lautet die einfache Devise. Die Sowjetunion ist weltweit der größte Getreideimporteur. Du liegst im Schwarzen Meer oder in der Ostsee und wartest viele Wochen, bis du endlich in den Hafen einläufst und dein Getreide löschen kannst. Keine Schuten da, keine Waggons, und Silos gibt es schon gar nicht. Weil nämlich das russische Transportwesen so hundsmiserabel organisiert ist. Lieber berappen sie täglich eine halbe Million Dollar aus der Staatsbank an Charterkosten für die vielen wartenden Schiffe auf Reede. Klingt nach sehr viel Geld auf die Dauer, lässt sich aber leicht ausrechnen bei der Tagesrate von zehneinhalbtausend Dollar, die allein unser Schiff täglich erhält.
Ein Besatzungsmitglied von uns musste wegen Krankheit mal für drei Wochen in Iljichevsk (heute Ukraine) ins Hospital. Da erfuhr er von dem behandelnden Arzt mit dem er sich etwas angefreundet hatte, dessen ganz offizielles Monatseinkommen betrug 110 Rubel, das entsprach 140 DM. Und das war Höchsteinkommen für „die Werktätigen“. So lässt sich ermessen, was für eine staatliche Misswirtschaft damals betrieben wurde.
Ist das Getreide endlich raus, dann fährst du wieder in Ballast fünf Wochen runter bis Argentinien. Da wartest du erneut Tage oder Wochen, bis deine Pier frei ist zum Laden. Weil das Getreide mit Lastwagen oft über Hunderte Kilometer herangekarrt wird. Und dann die Straßen unpassierbar sind wegen Regen. Das eigentliche „Reinschmeißen“ von Mais, Weizen oder Sorghum, das ist in ein oder zwei Tagen erledigt. Unsere Ladekapazität beträgt um 50.000 Tonnen. Weil aber die „La Plata-Häfen“ – oder richtiger die am Rio Parana – nämlich Rosario oder Villa Constitution oder Santa Fé zu wenig Tiefgang haben, gibt es dort immer nur Teilladungen. Falls nicht in Buenos Aires dann nehmen wir den Rest im weiter südlich gelegenen Hafen Bahia Blanca. Da trifft man dann auch die vierzig oder mehr Bulker wieder, die man bereits von den anderen Häfen her kennt. Ob Houston, Quebec, Riga oder Odessa, in der Getreidefahrt begegnet man sich im Lauf der Zeit immer wieder.
Dann geht’s entsprechend der Ankunftszeit wieder streng der Reihe nach und das dauert. Ganz besonders, wenn – so wie es uns jetzt hier passiert – mit diesem riesigen Getreidesilo von „Ingeniero White“ – das ist der Hafen von Bahia Blanca… Da hat sich über Nacht mal eben so eine schwere Explosion ereignet. Über Hunderte von Metern in diesem geschlossenen System, ein Gewirr von überdachten Laufbändern, Aufzügen und Rohrleitungen, hatte ganz plötzlich eine hochexplosive Mischung aus Getreidestaub und darin versteckten Gasen den kritischen Wert erreicht. Irgendwann wurde durch einen einzigen elektrischen Funken die Explosion ausgelöst und der Silo mit seinem gesamten internen Transportsystem ging schlagartig hoch wie eine Bombe. Sechzehn Tote hat es gegeben und einige der dicken Betondeckel oben auf den Riesenröhren wurden hoch in die Luft geschleudert. Gehört oder gesehen haben wir nichts davon, wir liegen einfach viel zu weit draußen. Aber über unsere Funkpresse und die ‚Deutsche Welle‘ haben wir davon erfahren. Und dann? Sechs Wochen lang rührte sich in dem verbliebenen Chaos nach dem Big Bang erst mal gar nichts. Immer nur warten – warten – warten.
Landgang ist nicht. Post kommt keine. Frischwasser auch nicht. Die Wartereede liegt mehr als 25 Meilen vom eigentlichen Hafen entfernt. Um uns herum sehen wir nur Wasser. Meistens jedenfalls. An manchen Tagen erleben wir eine Fata Morgana. Ja, wirklich! Da sieht man plötzlich weit entfernt auf einer Wiese Kühe grasen, allerdings strecken sie die Beine nach oben, gen Himmel. Und dann ist da dieser Baum. Mitten im Wasser vielleicht drei Seemeilen entfernt steht ein riesiger – ja der Form nach ein Eichbaum muss das wohl sein. Auch nicht immer zu sehen. Aber der existiert wirklich. Ich habe mit meinem 500er Tele ein Foto von ihm gemacht; vor einem herrlichen Sonnenuntergang als Hintergrund. Einmal die Woche kommt mit einem grauen Speedboat die Coast Guard rausgefahren und „zählt die Schiffe“. Sie winken uns immer freundlich zu, aber uns die auf der Agentur liegende Post mitbringen? Nein, negativ.
Bulkcarrier sind schon auf derlei Situationen eingerichtet. Wir haben übergroße Provianträume und die sind gut gefüllt. Unsere Dieselkapazität ist reichlich wie auch das Schweröl in den Tanks. Aber das braucht ja nur für die Hauptmaschine und nur wenn der Dampfer fährt. Trinkwasser haben wir ebenfalls genug - eigentlich. Aber! Je mehr Trinkwasser du an Bord hast, desto weniger Ladung kannst du mitnehmen. More tons, more money, wie gesagt. Also ist die Schiffsleitung gehalten, kurz vor „dem Abladen“ möglichst nicht zu viel Frischwasser an Bord zu haben. Schließlich können wir ja später auf dem Seetörn mit dem Verdampfer unser Frischwasser selber machen – heißt es. Das ist die Theorie. Die Realität aber sieht derzeit anders aus: Erstens wenn der Verdampfer – wie so oft schon – schwächelt, dann wird das nichts mit der Frischwasserproduktion, zweitens: Wer rechnet denn mit einer so überlangen Wartezeit. Drittens: Unsere dringliche Anfrage an die Reederei um Frischwasser von Land per Wasserboot wird glatt abgelehnt. Begründung: Viel zu teuer. Basta – das war’s! Was tun also? Das Frischwasser an Bord wird ab sofort streng rationiert, die allgemeine Zuleitung ist abgestellt. Vollen Zugriff haben nur die Kombüse und dann die Maschine für das benötigte Kesselspeisewasser. Mit dem Kessel müssen die ja ihre Brennstofftanks warm halten. Jedes Besatzungsmitglied erhält jetzt täglich einen Eimer Wasser verabfolgt, zur Körperreinigung. An allen Ausgängen an Deck sind Fässer aufgestellt, die werden jetzt täglich mit Seewasser aufgefüllt. Da kann sich jeder das Wasser für seine Toilettenspülung raus schöpfen und in die Kammer tragen.
Ansonsten – diese rund vierzig Schiffe um uns herum am Anker haben die gleichen Probleme. Beim allmorgendlichen Durchzählen ist von denen ab und zu mal einer verschwunden. Den haben sie dann endlich rein geholt. Wir anderen warten. Irgendwann kommen auch wieder mal neue hinzu. Die Getreideanlage wurde inzwischen zumindest provisorisch wieder in Betrieb genommen. Argentinien braucht schließlich dringend Devisen. Wir sind 25 Mann an Bord. Das Bordklima ist unter aller Sau. Es hat sich so etwas wie eine Cliquenwirtschaft gebildet. Der Chief ist der geborene Intrigant. Seine Kammer grenzt an meinen Funkraum. Wir können uns nicht riechen.
Der sammelt seine Kellerkinder um sich und stänkert. Vor allem gegen Deck. Holt sich die Ings und den Blitz in seine Kammer. Dann wird auf RP gesoffen auf Deubel komm raus. „Dienstgespräche“ ist die offizielle Bezeichnung dafür und alle seine Piepels müssen fleißig Radfahren bei ihm. Dann dürfen die „Ölaugen“ unten ausnahmsweise auch mal ein paar Überstunden machen. Und dicht halten über alles, was so nicht hinhaut im Fettkeller. Ein besonderer Spezi ist der Blitz. Ich habe es fertig gebracht, mit ihm ein Jahr lang nicht ein einziges Wort zu wechseln. Nicht mal am Frühstückstisch. Auslöser für diese Situation war, dass er auf einem genauso hohen Ziehschein besteht, wie er netto überhaupt verdient. Na gut. Wenn er seine gesamte Heuer bis zum letzten Pfennig nach Hause schickt, dann gibt es eben keinen Vorschuss für ihn – in keinem Hafen, denn Schulden dürfen nicht gemacht werden. Hat die Reederei so bestimmt. Aber mir nimmt er das übel. Er hat einen Ausweg für sich gefunden. Brachte mit Unterstützung des Chiefs die eigentlich geschlossene Bord-Bar wieder in Betrieb und verkaufte dort am Wochenende Getränke mit zehn Prozent Aufschlag. Hatte damit wenigstens seine eigene Kantine frei. Dafür sind Teile der Crew am Wochenende dann regelmäßig „breit“.
Der Chiefmate hat sich das Rauchen abgewöhnt. Von 100 Camel täglich (ohne Filter) runter auf Null. Exakt zu Sylvester war das, im Schwarzen Meer. Jetzt Monate später, kämpft er noch immer mit starken Entzugserscheinungen und seine Laune ähnelt ständig der eines Vulkans kurz vor dem Ausbruch. Früher stank er immer penetrant nach Rauch und Kaffee und Bier aus dem Hals, wenn er bis auf Handbreite an einen heran rückte, um so bei irgendwelchen Palavern seine Meinung zu unterstreichen; jetzt ist die Kaffeefahne dominierend. Um der Fahne bei den Brückengesprächen einigermaßen auszuweichen, versuche ich dann nach Möglichkeit, das lange Brückenfahrpult zwischen ihn und mich zu bringen. Mit der Folge, dass er in seiner Eindringlichkeit zum Gespräch dann mich immer um das Pult rum treibt. Zugegeben, der Mann versteht zwar sein Fach, aber menschlich ist er ein verdammter Kotzbrocken. Mir kann nur der OA leidtun. Den behandelt er fast wie einen Leibeigenen. Zwar bringt er ihm ne Menge bei während der gemeinsam gegangenen Brückenwache in Sachen Navigation und Seemannschaft, aber er vereinnahmt ihn auch noch in der Freizeit. Der muss nach Wachende dann auch noch im Fernsehraum mit ihm immer wieder diese Klamottenfilme mit Terrence Hill und Bud Spencer ansehen, auch wenn sie ihm schon lange zum Halse raus hängen. Trotzdem verbringe auch ich viel Zeit auf der Brücke. Da sind die Ferngläser und man kann die anderen Schiffe beäugen. Und dann sind ja auch noch die beiden anderen Steuerleute während ihrer Wache da oben. Da wird ne Menge rum gesponnen im Kampf gegen die Langeweile.
Irgendwann mal folgende Fantasie in Bezug auf unsere nunmehr 8-wöchige Wartezeit „in der Bucht der vergessenen Seelen“. Zusatzbestellung an die Reederei:
drei Stück Zinksärge, möglichst gut erhalten, Blechstärke 1,2 mm in verschiedenen Größen
drei Mähdrescher – für das bereits auskeimende Korn in den Luken
zwanzig Kruzifixe, dazu fünf türkische Halbmonde
ein Stück Dampframme für alle Fälle
zwanzig Stück Zwangsjacken, dazu einen erfahrenen Krankenpfleger vom Landeskrankenhaus
zwei Kühltruhen – zweilagig . . .
Naja. Ansonsten versuchen alle diese endlose Wartezeit irgendwie heil über die Runden zu bekommen. „Witte Mütz“ bemüht sich nach Kräften, die Stimmung nicht restlos absacken zu lassen. Organisiert Preisskat zum Wochenende und Grillabende. Großen Anteil daran, dass die Crew nicht durchdreht, hat auch der Koch Ein wahrhaft hell leuchtender Stern in der ansonsten sehr mäßigen Crew. Er schafft es viele Wochen lang, immer wieder neue Essensvariationen zu zaubern, ohne sich merklich zu wiederholen. In Hamburg besaß er früher einen Schnellimbiss mit angeschlossener Eisbude. Hat das Geschäft dann aber aus Verdruss über seinen Partner und die übertriebenen Forderungen des Gewerbeaufsichtsamtes aufgegeben und sich Trost bei der Seefahrt gesucht.
Mein Job als Funker ist es vor allem, ständig Wetterberichte und Listen abzuhören, ob denn irgendwo auf der Welt eine Nachricht für uns läge. Ansonsten brauche ich keine reguläre Funkwache zu gehen, weil wir ja vor Anker liegen. Nachmittags um eins kommt immer die Funkpresse auf Telegrafie. Eine Din A4 Seite runtergetippt mit den Nachrichten des Tages. Ausgestrahlt wird die „PX“ auf Kurzwelle vom Sender Usingen im Taunus. Der ist auch gut zu empfangen. Ein Service vom „Sozialwerk für Seeleute“ (früher vom „Hamburger Abendblatt“), der sich großer Beliebtheit erfreut. Pech ist nur, dass genau dann und auf dieser geschützten Frequenz die philippinischen Funker ihre Quasselwelle abhalten. Auch auf Telegrafie. Die Störungen sind so stark, dass die Blindaussendung von Usingen darin glatt untergeht. Die Presseaufnahme ist damit gestorben. Als sich auch Schiffe hier auf unserer Reede an den Störungen beteiligen und ich so nebenbei den einen oder anderen Schiffsnamen herauslesen kann, lege ich mich irgendwann mal mit den „Fipsen“ an. Rufe eines der Schiffe auf UKW und bitte den Kollegen da ganz höflich auf Englisch, für diese bestimmte halbe Stunde jeden Tag auf eine andere Frequenz auszuweichen. Woraufhin der da drüben rotzfrech wird. Worauf ich wiederum dem androhe, wenn das nicht aufhört, dann werde ich seinen Kapitän informieren wegen Störung des Funkverkehrs. Daraufhin gibt es noch kurze Zeit aufgeregt gemorstes Geschnatter in „Tagalog“ – die philippinische Lingua Franca – und danach ist dann endlich Ruhe.
Vier Stunden später dann ist die beste Zeit für Kurzwellenfunkgespräche über Norddeichradio. Es kommen viele hoch in die Funkbutze, um auf diese Weise den notwendigen Kontakt mit ihren Familien aufrecht zu erhalten. Auch wenn es verdammt teuer ist. Die Bundespost berechnet für ein Drei-Minutengespräch die ungeheure Summe von DM 28,50. Kann man nur als Wucher ansehen, aber was hilft’s. Auch wenn die Empfangsqualität wegen atmosphärischer Störungen oftmals grottenschlecht ist. Und man kommt sich wie ein Krösus vor, wenn Norddeich uns mal bei Überziehung von einer halben Minute die nicht noch in Anrechnung bringt. Ich selbst beteilige mich täglich zu den dafür festgesetzten Zeiten, über „unsere Quasselwelle“ auf 16.587 kHz Kontakt mit anderen deutschen Schiffen überall auf der Welt zu halten, um allgemeine Neuigkeiten auszutauschen.
Ein Beispiel: Zwei Kühlschiffe unserer Reederei ankern seit Wochen schon bei den nicht allzu weit entfernten Falklandinseln, um von dort operierenden japanischen Hochseefischern deren Tintenfischfänge zu übernehmen. Eine ziemlich haarige Angelegenheit. Denn die Schiffe arbeiten ziemlich stark im Seegang, auch wenn sie mit großen Gummifendern auf Abstand gehalten werden. Wenn die Freezer voll sind mit tiefgefrorenen Tintenfischen, dann bringen sie die nach Japan. Die Distanz von den Falklands zum Löschhafen in Seemeilen ist bis auf ganz wenige Seemeilen gleich, ob man den östlichen Kurs über Südafrika und den Indischen Ozean nimmt oder den westlichen durch die Magellanstraße über den Pazifik. Und so geschieht es dann auch; der eine fährt rechts rum um den Globus und der andere links herum. Ich habe auf der Quasselwelle auch zweimal eine Verbindung mit der Georg-von-Neumayer-Station in der Antarktis und einmal sogar mit einer Maschine der Deutschen Lufthansa, die sich gerade auf einem Flug mitten über der Sahara befindet.
Es gibt bescheidene Möglichkeiten an Bord, etwas Sport zu treiben. Zum einen wird viel Tischtennis gespielt. Oder auch gedartet. Wir haben einen kleinen „Hobbyraum“ an Bord, dessen Inventar beschränkt sich auf ein Trockenrudergerät und ein Fahrradergometer. Beides einigermaßen alt und ausgeleiert. Egal, um nicht zu verfetten, schuftete ich mich täglich jeweils fünfzehn Minuten auf den Dingern ab. Um den Sportlern dabei Ablenkung zu bieten, hat die Werft eine großformatige Fototapete mit Heidelandschaft auf die Wand geklebt. Das muss genügen. Für das Bordschwimmbad ist es so weit im Süden jetzt zu kalt. Aber wir haben noch unsere Trimmstrecke. Der „große Törn“ einmal längs der Reling um das Hauptdeck laufen, das sind 470 Meter. Mit elf Runden „ums Schiff“ trabe ich also entgegen dem Uhrzeigersinn täglich meine fünf Kilometer über das harte Eisendeck um die Luken rum. Irgendwann bei 500 Kilometer habe ich aufgehört mitzuzählen, während der fünfzehn Monate Fahrtzeit auf diesem Dampfer mag da wohl einiges zusammen gekommen sein. Und dann, eines Tages ist es endlich so weit. Nach 67 Tagen auf Reede gehen wir am 7. Mai 1985 an die Pier. Aber nur, um 36 Stunden lang Diesel und Wasser zu bunkern. Dann gehen wir erneut vor Anker. Einen Tag später ist die Ladepier endlich frei für uns.
Der riesige, kompakte Block der Silotürme steht äußerlich noch scheinbar unbeschädigt, aber die dazu gehörenden Nebenanlagen erinnern an einen schweren Bombenangriff. Die Ladung kann nicht mehr über Rohrleitungen zum und in dasSchiff befördert werden, sondern es wartet eine endlos lange Reihe von Lkw’s an der Pier. An jeder Luke steht ein elektrisches Förderband, da wird landseitig das Getreide von Arbeitern drauf geschaufelt und gelangt so weiter in die Luken. Das dauert. Bahia Blanca, oder genauer gesagt der Hafen „Ingeniero White“ ist ein müdes Kaff – sozusagen tote Hose. Zwei billige Kaschemmen gibt es an der Plaza, die aber nicht darauf eingerichtet sind, unseren Seeleuten die sonst in den meisten südamerikanischen Häfen gewohnte Entspannung für Körper und Seele zu verschaffen. Ich erhalte eine Einladung zum Mittagessen an eine Schule von Auslandsdeutschen. Eigentlich eine willkommene Abwechslung. Aber meine Erwartungen werden etwas enttäuscht. Die Herrschaften – meistens Damen – waren sämtlich schon im vorgerückten Alter und trotz allem Deutschtum hatten sie sich nicht nur sprachlich von ihrer Heimat oder der ihrer Vorfahren stark entfernt. Sie waren zwar alle sehr nett, aber es herrschte so ein gewisses klassenbewusstes Denken, das man bei uns im Lande schon lange überwunden hat. Diese „Graf-Spee-Aera“ also, die man auch in Buenos Aires gelegentlich antrifft, nur mit noch mehr „Kult“. Außerdem wurden nicht die von mir insgeheim erwarteten Steaks serviert, für die Argentinien ja einen erstklassigen Ruf hat, sondern lediglich süßlich klebrige Kuchen mit labberigem Kaffee.
Nach dreitägiger Beladung laufen wir eines Abends aus mit Bestimmung für einen der sowjetischen Ostseehäfen. Genaues Ziel noch unbekannt. Zum Abschied erleben wir einen ganz besonders eindrucksvollen Sternhimmel, so toll wie selten. Und dann ein Ufo. Ja, ein wahrhaftiges Ufo! Eine Art heller Rauchring einer Ellipse ähnlich in die Länge gezogen mit unscharfen Kanten. Das Ding steht plötzlich in schätzungsweise ein- bis zweitausend Metern Höhe in südlicher Richtung über uns am Himmel. Wandert ein Stück mit uns mit, bleibt wieder stehen, folgt uns noch etwa zwanzig Minuten lang und verblasst dann in kurzer Zeit. Die Reflexion von einem Scheinwerfer kann es nicht gewesen sein, denn da waren absolut keine Wolken am nachtschwarzen Himmel. Keiner, auch niemand auf der Brücke hat eine Erklärung für das Ding, also behalte ich es eben als das einzige Ufo meines Lebens in Erinnerung.
Tags drauf nach dem Auslaufen gebe ich dem andauernden Gefrotzel des Chiefs nach und schließe mit ihm eine Wette ab. Der Elektriker ist auch beteiligt. Wer von uns dreien bis Gibraltar nicht mindestens fünf Kilo abnimmt, muss an den Gewinner eine Kiste Bier bezahlen. Na, denen werde ich es aber zeigen! Ich verstärke meine sportlichen Aktivitäten – mit zum Äquator hin zunehmend wärmer werdenden Temperaturen kommt ja auch die Benutzung des Schwimmbades hinzu – und reduziere meine täglichen Mahlzeiten auf zwei, und zwar ohne Nachschlag.
Zwischendurch laufen wir Rio an. Wir müssen ja bunkern. Eigentlich Anlass für ein Freudenfest an Bord. Aber nix da, wir ankern wieder mal auf Reede. Bunkeröl samt angefordertem Proviant wird mit Schuten heran gebracht. Nach wenigen Stunden mit sehnsüchtigen Blicken zur nahen Praca Maua rüber geht es weiter nach Norden. Die Reederei teilt uns den Löschhafen mit: Riga. Auf der Höhe von Gibraltar – exakt 36° Nord – startet die Wiegeaktion. Kein Problem für mich; ich habe ganze sieben Kilo abgenommen. Anders meine beiden Kontrahenten. Trotz erwiesener Mogelei – wie ich hinten rum erfahre, hatte der Chief beim Wiegen damals sich vorher ein mehrere Kilo schweres Metallteil in den Overall gesteckt – bleibt er unter den geforderten fünf Kilo. Ich erinnere an die Kiste Bier. Abends bringt er mir acht Flaschen vorbei. Wie das? Wo bleiben denn die anderen sechzehn Buddels? „Ja, wir hätten den Gewinn doch gemeinsam ausgetrunken. Und nun habe ich mich aber entschlossen, meinen Anteil mit dem Blitz alleine zu trinken . . .“ Eine Logik, die nachzuvollziehen mir nicht eben leicht fällt. Der ist nicht nur mies, der ist auch noch stink geizig. Aber was soll’s. Es muss eben auch solche Menschen geben.
Es geht heimwärts. Die Crew wird langsam unruhig. Die Kündigungen sind bereits unterwegs – nein, falsch – die gesamte Besatzung hat telegrafisch ihren Urlaub eingereicht und freut sich auf Ablösung im Kiel-Kanal. Und wieder erwartet uns ein Nackenschlag. Wir fahren nicht durch den Kanal, nein wir nehmen den Umweg über Skagen und durch den Belt. Erneute Telegramme an das Mutterhaus. Aber die husten uns was. Es ist schließlich Sommer und wo sollen sie so schnell Leute her kriegen. Da lass mal lieber die Sowjets den Brennstoff zahlen und der Dampfer fährt den Umweg über Skagen nördlich um Dänemark rum. Und dann – ja wie schon gesagt – more days, more money. Tage später Ankunft auf der Rede von Riga. Und natürlich erneut Wartezeit. Wie lange? Diesmal „nur“ so um drei Wochen. Da trösten auch nicht die „weißen Nächte“ mit Sonnenbad bis abends um elf. Schon lange beginnt jedes zehnte Gespräch mit „Schnauze voll“. Immerhin kriegen wir übers Radio den Triumph von Boris Becker mit; erster deutscher und dazu noch jüngster Wimbledon-Gewinner aller Zeiten. Am 16. Juli 1985 dann endlich Ankunft der MEISTERSINGER in Kiel. Die gesamte Besatzung verlässt in Windeseile das Schiff. Es soll aufgelegt werden oder verkauft. Von mir aus, weg mit dem Hobel . . . Einen Vorteil hat mir diese ansonsten nicht sehr erfreuliche Fahrtzeit von fünfzehn Monaten dann aber doch eingebracht: Da man bei den meist wenig verlockenden Häfen in diesem Fahrtgebiet und seltenen Möglichkeiten zum Landgang unwahrscheinlich gut sparen konnte, habe ich auf einen Schlag die letzte Hypothek für meine Eigentumswohnung ablösen können. Zusammen mit einer früheren Fahrtzeit auf diesem Schiff habe ich 22 Monate meines Lebens allein auf der MEISTERSINGER verbracht.