1970 – Weihnachten auf Francesca
‚M/S Francesca’ war was Besonderes; auch noch 12 Jahre nach der Indienststellung. Damals mit seinen 25.000-Tonnen der modernste und einer der größten Bulker der Welt. Ganze 220 Meter lang und mit Mittschiffsaufbauten so groß wie das Hamburger "Vierjahreszeiten". In diesem „Hotel“ wohnten nur die Offiziere und der Erste Steward. Die Crew und die Ings hausten achtern in groß-räumigen Wohnanlagen. Ursprünglich fuhr das Schiff mal 46 Mann Besatzung, aber 35 ohne die Haustiere waren's zu meiner Zeit immer noch. (Zur Erklärung: Auch der Bordhund ‚Lupo’ war auf der Crew-Liste eingetragen). Ungewöhnlich auch, dass die gesamte Crew rein deutsch war, obwohl das Schiff unter Monrovia-Flagge fuhr. Damals war die noch nicht so anrüchig (in Seemannskreisen) wie heute und es wurde außerdem mit 5 % ‚Flaggenzulage’ honoriert! Der Dampfer war ausgesprochen beliebt – es gab Besatzungsmitglieder, die nur noch auf der ‚Francesca’ und ihrem Schwesterschiff ‚Fiona’ fahren wollten. Reederei-intern waren angeblich einige nur noch für diese beiden geeignet. Auch das Betriebsklima war ein besonderes, wie sich vermuten lässt. Wegen der wuchtigen Form des Schiffes hatte die ‚Francesca’ den Spitznamen weg ‚der gelbe Bomber vom La Plata’.
Wir fahren auf der ‚Maisstraße’; immer so zwischen Ravenna in Italien und 3 argentinischen Getreidehäfen hin und her. ‚Francesca’ ist gerade wieder voll abgeladen Nord gehend Richtung Mittelmeer unterwegs. Heute ist der 24. Dezember 1970. Tags zuvor haben wir in Mindelo auf den Cap Verdischen Inseln Brennstoff gebunkert. Da – heute gegen 4 Uhr – plötzlich gibt es einen gewaltigen Rumms achtern und nichts geht mehr. Das Schiff treibt ohne Antrieb sich leise wiegend auf der lang gestreckten Dünung. Nun ist ja ein Maschinenstopper aus den verschiedensten Gründen durchaus nichts Ungewöhnliches. So erfahre ich als Mittschiffsbewohner erst beim Frühstück, was geschehen ist. Das auch nur in Raten, wenn man mal einen Maschinesen kurz zu fassen bekommt. Einen Kolbenfresser hat es gegeben, verbunden mit einer Kurbelwannenexplosion und nachfolgendem Maschinenraumbrand. Die gesamte Maschine – 12 Mann hoch einschließlich Chief – ist unten am arbeiten, wühlt pausenlos durch. Der Brand war bereits nach kurzer Zeit mit vereinten Kräften gelöscht. Dann folgte die Schadenbesichtigung. Wie sich herausstellte, hat es einen der gewaltigen Kolben kurz und klein zertrümmert. Bei 15 000 PS sitzt schon ein gewaltiger Wumm dahinter, wenn es mal knallt. Wir müssen wieder flott werden, egal wie! Oberstes Gebot: Wir müssen unter allen Umständen vermeiden, einen Schlepper zu rufen. Der Bergelohn würde die Reederei ein Heidengeld kosten und Loyalität gegenüber der Compagnie ist immer noch Ehrensache und – überhaupt lässt der Stolz der Besatzung das auch gar nicht zu. Das unterscheidet uns deutsche Seeleute im Jahr 1970 von jenen zusammen gewürfelten Nevermind-Crews auf diesen schwimmenden Särgen, die man da und dort in exotischen Häfen trifft. Also wühlen unsere Jungs da unten bis zum Umfallen. Den ganzen Tag geht das und die halbe Nacht. Bis endlich das Ärgste geschafft ist und sie sich in Schichten zu 6 um 6 Stunden einteilen.
Die offizielle Weihnachtsfeier fällt aus, klar! Von der restlichen Crew voll akzeptiert. Auch die Bar bleibt geschlossen. Beschluss der Schiffsleitung. Man kann nicht fröhlich feiern, wenn andere währenddessen da unten in der Hitze schuften. Die elektrischen Kerzen am Baum brennen und Weihnachtsessen gibt’s es natürlich auch; aber die Stimmung ist ganz dezent. Nur nicht die Gefühle von denen da unten verletzen.
Am ersten Feiertag gibt es gebratene Gans. Plötzlich fehlen dem Koch 2 ganze Vögel. Einfach so aus der Backröhre raus. Weg! Es stellt sich erst später raus: Haben ihm 2 Heizer geklaut. Hat man ja auch an den schwarzen Tapsen gesehen. Waren die Kerle öl-verschmiert schwarz wie die Teufel in einem unbewachten Moment in die Kombüse gestürmt und ratzfatz mit ihren rabenschwarzen Pfoten die Gänse aus dem Ofen gegriffen und gleich wieder in die Maschine abgetaucht. Trotzdem werden alle reichlich satt. Bei diesem ‚Verein’ wird nicht am Essen gegeizt. Wenn auch das allererste Reedereirundschreiben von anno 53 noch haarklein aufführte, was alles für das Weihnachtsfest aufgewendet werden durfte oder sollte. Zitat: "Am ersten Feiertag ist Braten zu reichen!" Auch stand Nuss für Nuss zu lesen, was auf dem ‚Bunten Teller’ drauf zu sein hatte. Siebzehn Jahre später sind diese Zeiten Geschichte. Unser Koch ist ohnehin berühmt-berüchtigt für seine täglich sage und schreibe zwölf verschiedenen Frühstücksgänge – wahlweise natürlich.
So wurde – und wird auch heute noch – das, was einem die Seefahrt an herkömmlichem weihnachtlichem Gefühlsrausch wie verstärkte Familienverbundenheit und Geborgenheit und Zuneigung unter heimatlichem Lichterbaum nicht bieten kann, ganz einfach durch eine permanente, bis zum Neujahrstag hin andauernde Fressorgie ersetzt. Und zur Seelentröstung stehen ausreichend alkoholische Getränke zur Verfügung. Und gesoffen (wurde damals) reichlich – wenn die Situation es denn zulässt. Also das Schiff sich nicht gerade im englischen Kanal befindet oder bei der Ansteuerung an einen Hafen, oder bei besonders prekären Ladungsangelegenheiten oder wenn schlicht trouble herrscht, ja so wie jetzt mit unserer ‚Havarie grosse’.
Ich als Funker habe indessen meine eigenen Probleme. Natürlich haben wir sofort telegrafisch die Reederei informiert. Mit dem ersten Telegramm klappte es gerade noch so. Obwohl sich die Kap Verden sich nicht übermäßig weit von Norddeich befinden, ist es eine Plackerei. Zum einen herrscht bei DAN wegen des Weihnachtsverkehrs absoluter Hochbetrieb, zum anderen scheinen wir uns in einem Funkloch zu befinden. Das bedeutet, die dort können mich fast kaum hören. Irgendwann bekomme ich QRY 36. Es werden also 36 Schiffe vor mir abgefertigt, bis ich an der Reihe bin. Im Schnitt gehen da drei bis vier Telegramme pro Schiff hin und her. Was wiederum bedeutet, dass ich mich auf eine eine Wartezeit von sechs Stunden einrichten kann. Als ich endlich an der Reihe bin – so gegen 1600 Uhr, kann man mich dort überhaupt nicht mehr empfangen. Erhalte nach mehreren Aufforderungen von Norddeich ein knappes QRX LTR. (Sie können mich später wieder rufen). Die denken wahrscheinlich, ich bin inzwischen feiern gegangen. Irgendwann gegen zwei Uhr Nachts bin ich endlich mein Telegramm losgeworden. Die können sich aber freuen in der Mattentwiete über dieses Weihnachtsgeschenk.
In der Nacht vom 26. auf den 27. haben sie es endlich geschafft. Der havarierte Zylinder ist stillgelegt, der zertrümmerte Kolben samt Zubehör restlos ausgebaut. Die Maschine wird mit Druckluft angelassen. Es ertönt das bekannte Wummern aus dem Schornstein; ja – der Jockel dreht sich wieder. Aber – was ist das denn?! Neben den bekannten Tönen plötzlich ganz neue, nie vernommene Geräusche Es beginnt mit einem zweimaligen Aufheulen – gefolgt von mehrfachem dumpf polterndem Gebuller und dann – wieder dieses Geheul. Als ob die Maschine schreit! Sie schreit sehr laut - wie ein wundes Tier. Ein mächtig großes Tier... Schmerzensschreie! Saurier müssen so geschrieen haben. Ein schrill-heiseres Wiiiuhh-wiiiuuhh wumm wumm wumm...wiiiuhh-wiiiuuhh wumm wumm wumm...
Was nichtsdestotrotz die gesamte Besatzung außerordentlich erfreut: Ein Zittern geht durch den Rumpf, dieses vertraute Wackeln der Aufbauten, das vom Quietschen der Blöcke begleitete Vibrieren der Masten. Die See unter dem Heck wird von der Schraube aufgewühlt. Langsam, ganz langsam nimmt die ‚Francesca’ Fahrt auf.
Wir Mittschiffsbewohner hausen gut 100 Meter von der Maschine entfernt; aber trotz geschlossener Fenster ist das Maschinengeheul markerschütternd. Man könnte meinen, ein Kannibalenstamm geht auf den Kriegspfad. Und so geht das tagelang. Gott sei Dank sagen Kapitän und Chief. Hauptsache, kein' Schlepper! Aber nicht zu beneiden die 30 Mann, die achtern hausen. Wiiiuh-wiiiuh wumm wumm wumm...wiiiuh-wiiiuh wumm wumm wumm... Natürlich hat man eine Erklärung für die nervtötenden Schreie. Es ist die umgelenkte Ansaugluft der Abgasturbine vom stillgelegten Zylinder (Nr. 4 oder 5 oder 7 oder was weiß ich). Die findet nicht mehr den gewohnten Widerstand gegen den Kolben vor und pfeift mit riesigem Druck fauchend durch die Luftschlitze der Kolbenbuchse ins Freie.
Drei bis vier Tage brauchen wir im Schongang bis zu den Kanaren und da humpeln wir jetzt hin. Die gesamte Maschinencrew ist total down und fällt in die Kojen. Sollte man meinen. Is aber nich. Die Jungs aus dem Fettkeller holen jetzt erstmal verschärft Weihnachten nach. Bier und Schnaps fließen in Strömen und der Chief lässt sie gewähren. Sämtliche Heldentaten angefangen vom ersten Knall über das erfolgreiche Löschen mit der Schaumkanone bis zum Wiederanlassen werden tagelang ausgiebig beklönt, beprahlt und besungen. Der Mensch braucht halt ein Ventil. Wir waren erst wenige Stunden in Fahrt und da klappt es auch wieder mit Norddeich. Es war eben ein kleines, aber höchst effektives Funkloch dort über den Kap Verden.
Mit sehr langsamer Fahrt, aber - wichtig! - ohne Schlepper und mit eigener Kraft erreichen wir mit unserer waidwund jaulenden Maschine an einem Morgen kurz vor dem Jahreswechsel die Einfahrt des vorgesehenen Nothafens Las Palmas de Gran Canaria. Die Order dafür ist auf dringende telegrafische Bitte von der Reederei erteilt worden. Gleichzeitig wurde uns die Ankunft zweier Spezialisten von Hamburg angekündigt. Allgemeines Aufatmen, als wir gegen elf Uhr an den Tonnen fest sind und die gequälte Hauptmaschine endlich schweigt.
Für die Maschinesen ist die Angelegenheit damit keineswegs vorbei. Kaum ist die Gangway an Land, da kommen zusammen mit den Einklarierungsbehörden die zwei wichtigen Leute von Hamburg an Bord.
Der dicke Maschineninspektor mit der ewig qualmenden Zigarre im Mundwinkel und angewachsener Baskenmütze und ein M.A.N-Monteur namens Kudritzki. Dieser ein Spezialist von Blohm + Voss ist in der gesamten Reederei-Flotte berühmt-berüchtigt für seinen Arbeitseinsatz. Er arbeitet, nein ! - schuftet durch ohne Pause, wenn er so einen Hauruck-Job hatte wie jetzt in unserem Fall. Und das tagelang – bis der Job gemacht ist! Unsere Maschinengang macht weiterhin Schichtdienst - jetzt unter seinem Kommando - und weiß Erstaunliches über seine Arbeitswut zu berichten. Selbst anerkannte Wühler wie Günter H. und Noli lassen sich höchst anerkennend über Können und Ausdauer dieses wahrhaftigen Rabotniks aus. In unregelmäßigen Abständen taucht er - schwarz von Öl verschmiert und penetrant nach Gasöl und Schweiß stinkend - aus den Innereien der Hauptmaschine auf, wechselt in einen frischen Overall und schlingt in der Kombüse aus einer Suppenback löffelnd riesige Essensportionen in sich rein, um gleich drauf wieder in den Fettkeller abzutauchen.
Dieser Einlauftag in Las Palmas ist zufällig mein Geburtstag. Er wird diesmal etwas unkonventionell begangen. In Rosario hatte ich den Schiffshändler - einen Baltendeutschen aus Riga - mehr aus Jux gefragt, ob er denn auch so was wie Frankfurter Äppelwein besorgen könnte. "Na ja, so was ähnliches hätte ich schon" meinte der. So kamen dort also mit der umfangreichen Proviantlieferung auch zehn Kisten Cidre an Bord. Nie gehört vorher von so was. Der Stoff war abgefüllt in mächtig große und dickwandige Sektflaschen und die wurden in ungewöhnlich massiven Holzkisten angeliefert. Verschlossen und regelrecht verdrahtet sind die Buddels mit richtigen Sektkorken. Dieses Zeug ist nun fällig. Wo finden an Bord die meisten Spontanparties statt? Naa? In der Kombüse natürlich. Seit jeher die Nachrichtenbörse, Meeting Point und zentrale Bierstation auf jedem deutschen Dampfer. Fast alle Köche bei der Seefahrt sind kleine Sensibelchens und hungern nach Bestätigung ihrer wichtigen Position. Und da der Koch in seiner Kombüse nun mal der Boss ist, kann er in seinem Reich auch den Ton bestimmen. Kommt natürlich auf den jeweiligen Koch an, aber die meisten "Chefs" genießen dieses im Mittelpunkt stehen durch die Bank gar zu sehr und der dicke Koch Franz aus Gelnhausen ganz besonders.
Die ersten Flaschen werden mit einiger Mühe entkorkt - pro Flasche braucht man so circa zweieinhalb Korkenzieher - mein Gott – so was hat noch keiner erlebt - dann endlich wird der Stoff mit Hallo angetestet und für gut befunden. Diverse Obstsorten zu Wein vergoren und prickelnd wie echter Sekt! Hauptsache is billich un macht lustich, lautet die Devise. So dauert es gar nicht lange und es finden sich so nach und nach 12, 15 Mann in der Kombüse ein, die mir alle heftig zutrinken. Chef Franz hat den Politikus ergriffen und übernimmt den Ausschank. Gläser sind knapp und so behilft man sich kurzerhand mit sonstigen geeigneten Gefäßen wie Konservendosen, Marmeladegläsern und ähnlichem. Der 2.Ing kommt hinzu, greift sich gleich ein Litermaß und lässt es sich auffüllen. Seitdem führen wir eine neue Maßeinheit an Bord - ein Liter entspricht einem Brakel. Überhaupt: Seitdem der an Bord ist, wird nicht mehr schlicht gesoffen, sondern nur noch "gebrakelt". Sein Wach-Assi Noli, der langt sich kurzerhand den Gummiplumper, mit dem normalerweise die verstopften Speigatten in der Kombüse wieder klariert werden, spült ihn ab und wertet den zum Trinkkelch auf. Der heilige Gral spottet die Meute, als Noli den Holzstiel ergreift und den Plumper – frisch gefüllt mit Cidre - zum Munde führt.
Das Zeug hat’s in sich. Die Stimmung ist mittlerweile recht aufgelockert und irgendwann formieren sich alle Mann im Gänsemarsch und tanzen im Rundgesang um den großen Herd herum. Der dicke Koch hat in einer strategisch günstigen Ecke mit dem Flaschenvorrat Position bezogen und schenkt schwungvoll mit seinem Politikus die Gläser nach. Zunehmend wird die Feier bacchantisch und erinnert entfernt an den Tanz um das Goldene Kalb. Fehlen eigentlich nur noch ein paar fröhliche Damen in der Runde.
Plötzlich verdunkelt sich eins der vergitterten Kombüsenfenster und eine tiefe Stimme erdröhnt: "Na, wer ist denn das Geburtstagskind hier?" Da hat der Inspektor aus Hamburg also ganz richtig erkannt, dass es sich bei dem Tanz um den Herd nicht um den Normalfall im Kombüsenalltag handelt, sondern um eine ganz schlichte Geburtstagsfeier. Der Mann ist gut. Aber der ist ja auch lang genug selber zur See gefahren. Damals hatten eben auch die Reedereiinspektoren noch Humor, ein Glas - wo das wohl so plötzlich herkam - wird dankend akzeptiert und mit Schwung geht’s die Gurgel runter. Dann verschwindet er wieder Richtung Fettkeller und die Party nimmt - etwas verhaltener - ihren Fortgang, bis alle so nach und nach abstürzen…
Man stelle sich so etwas heutzutage vor - im Jahr 2006 - und es käme einer dieser Nadelstreifen-Popels an Bord. Eine Abmahnung für alle Beteiligten wäre das mindeste. Damals wurde seitens der Reederei folgerichtig dankbar anerkannt, welch gewaltigen Einsatz die Crew erbracht hatte, der Reederei die immensen Kosten für den Einsatz eines Hochseeschleppers zu ersparen. Heute - mit internationaler - nur mäßig begabter - und unmotivierter Vielvölker-Crew so kaum vorstellbar.